Grundlagen der Schriftvergleichung 

1. Grundannahmen

Die Handschrift eines Menschen lässt sich bezüglich ihrer Einzigartigkeit gut mit einem Fingerabdruck vergleichen. In diesem Zusammenhang dienen die folgenden drei Axiome der Schriftvergleichung als empirische Grundlage:  

  •    Die habituelle Handschrift einer Person ist einzigartig.  
  •    Die Handschrift eines Menschen bleibt trotz einer gewissen Schwankungsbreite relativ konstant.  
  •    Das Spurenbild einer hinreichend komplexen Schreibleistung ist einmalig

 

2. Methodik der Schriftvergleichung

Grundlage einer schriftvergleichenden Analyse ist die Erhebung des objektiven graphischen Merkmalsraumes. Dabei geht man von der empirisch gestützten Annahme aus, dass die Handschrift als Produkt graphisch fixierter Bewegungen eine individuelle Ausprägung aufweist, die sich in der besonderen Konfiguration ihrer Merkmale als Gesamtheit manifestiert. Einzelmerkmale für sich alleine sind allerdings noch nicht hinreichend individuell. Für eine Echtheits- bzw. Urheberschaftsprüfung eignen sich deshalb auch nur Schreibprodukte, die quantitativ einen ausreichenden Umfang aufweisen und darüber hinaus eine in ihrer Gesamtheit genügende Eigenprägung aufweisen.

Da die Merkmale einer Handschrift nur relativ konstant sind und durch verschiedene Faktoren beeinflusst werden können, bildet das Vorliegen von quantitativ und qualitativ geeignetem Vergleichsmaterial eine Grundvoraussetzung für schriftvergleichende Untersuchungen.

Im Rahmen der vergleichenden Analysen werden die Schriften systematisch auf Übereinstimmungen versus Abweichungen überprüft. Dabei kommt der Analyse der Feinstruktur der Schrift eine besondere Bedeutung zu, weil dieser Bereich des Merkmalsinventars der willentlichen Kontrolle und Steuerung stärker entzogen ist. Bei Echtheitsprüfung von Unterschriften genießen beispielsweise Strichbeschaffenheit sowie Druckverlauf wegen ihrer relativen Konstanz mit höchste Diskriminationskraft.

Die Komplexität und Vielfalt der am Schreibvorgang beteiligten Mechanismen bewirkt, dass die Handschrift eines jeden Schreibers mehr oder minder stark innerhalb bestimmter Grenzen variiert. Die Interpretation des Untersuchungsergebnisses stützt sich schließlich auf die Werthaltigkeit der festgestellten Entsprechungen versus Abweichungen. Für den Identitätsnachweis werden wertstarke Übereinstimmungen in Merkmalskonfigurationen benötigt, die insgesamt vielgliedrig genug sind und deren Einzelmerkmale eine hinreichend hohe Spezifität aufweisen.

Ein sicherer Nachweis lässt sich nicht in jedem Fall führen. So können Unzulänglichkeiten in dem zu untersuchenden Schriftmaterial (fragliches sowie Vergleichsmaterial) Einschränkungen in der gutachterlichen Schlussaussage bedingen.

 

Mindestanforderungen an das fragliche Untersuchungsmaterial und die Vergleichsproben

Die zu untersuchende Schreibleistung muss jeweils Mindestanforderungen erfüllen, damit eine schriftvergleichende Untersuchung durchgeführt werden kann. Ob die erforderlichen Mindestanforderungen vorliegen oder nicht, wird im Rahmen der Begutachtung unter der Rubrik „Materialkritik“ geprüft und bewertet.   

Ein besonderes Augenmerk wird dabei auf folgende Aspekte gelegt:

  • Graphische Ergiebigkeit und Analysierbarkeit der fraglichen / strittigen Schreibleistungen sowie
  • Geeignetheit der Vergleichsproben (in quantitativer und qualitativer Hinsicht)

 

Physikalisch-technische Untersuchungen

Fragliche Schreibleistungen (sofern im Original vorhanden) werden mit Hilfe von zerstörungsfreien optischen und anderen physikalisch-technischen Methoden untersucht. Es soll dadurch geprüft werden, ob neben den mit bloßem Auge erkennbaren Schriftspuren weitere Merkmale vorhanden sind, die einen Hinweis auf die Herstellungstechnik und / oder sekundäre Manipulationen geben können. So werden standardmäßig folgende Untersuchungen durchgeführt:

Stereomikroskopische Prüfung unter Verwendung unterschiedlicher Abbildungsmaßstäbe, Beleuchtungsintensitäten, -arten und -richtungen zur Feststellung von Vorzeichnungs- oder Radierspuren sowie eventueller Störungen im Bereich der Strichbeschaffenheit etc.;

  • Infrarot-Reflexion-, Infrarot-Lumineszenz- und Ultraviolett-Fluoreszenzprüfung zur Feststellung von Schreibmitteldiskrepanzen;
  • Untersuchung auf latente Durchdruckspuren mit einem elektrostatischen Druckspurenabbildungsgerät;
  • Kongruenzprüfung zur Feststellung überzufälliger Deckungsgleichheiten.  

  

Befunderhebung und Bewertung, Schlussfolgerungen

Die zu untersuchenden handschriftlichen Schreibleistungen werden systematisch auf Übereinstimmungen versus Abweichungen überprüft. Dies geschieht anhand des sogenannten Grundkomponentenmodelles nach Lothar Michel (vgl. 1982, S. 78 – 85). Untersuchung von Grundkomponenten der Handschrift:

  • Strichbeschaffenheit
  • Druckgebung
  • Bewegungsfluss
  • Bewegungsführung und Formgebung
  • Bewegungsrichtung
  • Vertikale und horizontale Schriftausdehnung
  • Vertikale und horizontale Flächengliederung
  • Sonstiges

 Literaturhinweis: Michel, Lothar (1982): Gerichtliche Schriftvergleichung. Berlin: de Gruyter

Der Sachverständige bewertet zunächst die Einzelbefunde und unter Berücksichtigung möglicher Anknüpfungstatsachen (z.B. bekannte und / oder behauptete Entstehungsbedingungen) auch das Gesamtbefundbild. Daraus ergeben sich logische Schlussfolgerungen, die in Bezug auf den vorliegenden Hypothesenraum (mit seinen einander ausschließenden Entstehungshypothesen) zu einer verbalen Wahrscheinlichkeitsaussage führen.